Die revolutionäre Energie der Massen lässt sich nicht auf Flaschen ziehen. Spontaneität, Politische Bildung und Politische Kultur – Welche Voraussetzungen braucht Selbstorganisation? Wie sind Selbstveränderungsprozesse der Akteure durch diese gestaltbar?

Vortrag am 3. März 2006 in Berlin

Hier der Vortrag als PDF zum Download.

Spontaneität ist ein schwer zu greifendes Ding.

Ich will mich ihr aus einer hier vielleicht unerwarteten Richtung nähern, nämlich aus Sicht der modernen Naturwissenschaften. Der Münchener Biokybernetiker Frederic Vester, Mitglied des Club of Rome, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit vernetzten Systemen und der Kunst, vernetzt zu denken. Und siehe da, viele der der Natur abgelauschten Gesetzmäßigkeiten finden sich auch in den Entwicklungsprozessen der menschlichen Gesellschaft wieder. Immerhin sind beides hochgradig komplexe Systeme.

Solche Systeme weisen aber manche Tücke auf: Nur selten erkennt man klare Ursache-Wirkungs-Mechanismen. Vieles hängt zusammen, was getrennt erscheint, und was zusammenzuhängen scheint, hat manchmal nur wenig miteinander zu tun. Man greift irgendwo ein, die Wirkung pflanzt sich gleichsam unterirdisch fort und erscheint an unerwarteter Stelle mit völlig unvorhergesehenen Resultaten.

Jahrelang agiert die Linke gegen Sozialraub – und kein nennenswerter Widerstand regt sich. Plötzlich, von heut auf morgen, fegen die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV durch das Land, kippen am Ende einen Kanzler aus dem Amt – und die organisierte Linke hat anfangs Mühe, den Anschluss nicht zu verpassen. Alle, Freund wie Feind, sind sich dann sicher, wenn erst die grausamen Wirkungen von Hartz IV bei den Betroffenen in Euro und Cent ankommen, dann gibt es Krawalle – worauf man noch heute wartet.

Politiker, aber eigentlich wir alle, neigen dazu, die Probleme dort zu beseitigen, wo sie auftreten, meist ohne auch nur zu ahnen, dass die Ursache ganz woanders liegt, ja, dass es oft im eigentlichen Sinne gar keine Ursache gibt, sondern ein Geflecht von Erscheinungen, von denen jede einzelne völlig harmlos sein kann. Komplexe Systemen sind eben mehr als die Summe ihrer Teile. Sie können Eigenschaften aufweisen, die in keinem einzigen ihrer Bestandteile zu finden sind. Es gibt Zeitverzögerungen, Rückkoppelungen, Schwellenwerte, Selbstregulation und Umkippeffekte – also alles das, was Parteistrategen, Verwaltungsbürokraten und Börsenmaklern den geordneten Gang der Dinge versaut.

Damit bin ich bei Rosa Luxemburg. Sie hat, wie kaum eine andere Theoretikerin und Praktikerin der Linken, diese geheimen Gesetzmäßigkeiten vorausgeahnt. Wie kaum jemand zweites wusste sie um das Geheimnis der Spontaneität und wusste diese in den politischen Auseinandersetzungen einzusetzen. Im Folgenden einige Anregungen zum Umgang mit komplexen Systemen, verbunden mit kleinen Bezügen auf Rosa Luxemburg:

Anregung 1: Wer sich den Gesetzmäßigkeiten komplexer Systeme verweigert, wird Schiffbruch erleiden.

Ungeachtet bester Absichten wird er Wirkungen erzielen, die er nicht wollte und die oft genug seinen Zielen sogar diametral entgegenstehen. Einer der treffendsten Ausdrücke ist das Murphy’schen Gesetz, das sie sicher alle kennen:

Alles, was schief gehen kann, geht auch schief.

Weniger bekannt ist, dass das nur das erste von drei Gesetzen ist. Das zweite lautet:

Auch was nicht schief gehen kann, geht irgendwann schief.

Das dritte bringt die ganze Verzweiflung mit der Komplexität auf den Punkt:

Auch wenn etwas, das eigentlich schief gehen sollte, nachher nicht schief gegangen ist, wird man feststellen, es wäre besser gewesen, es wäre schief gegangen.

Eines der interessantesten Experimente in diesem Zusammenhang führte bereits 1975 der Psychologe Dietrich Dörner durch. Er erfand eine fiktive afrikanische Region, Tanaland, speicherte die wichtigsten, sehr realistischen Daten im Computer und ersann ein Computerprogramm, mit dem man Tanaland entwickeln konnte. Zwölf Personen sollten mittels Computer Tanaland entwickeln. Das Ergebnis war niederschmetternd. In jedem Fall war das Ergebnis schlechter als die Ausgangslage – obwohl alle das Gute wollten. Experten versagten ebenso wie Laien. Wenn man die Fehler analysiert, wozu mir hier leider die Zeit fehlt, erkennt man übrigens manches aus DDR-Zeiten wieder.

Anregung 2: Spontanes Handeln und Selbstorganisation sind zwar untrennbar mit der Existenz komplexer Systeme verbunden, aber sie lassen sich nicht künstlich erzeugen, nicht planen, ja, sie lassen sich nicht einmal vorhersagen.

Denken Sie an die die Wende in der DDR.

Rosa Luxemburg schrieb in Das belgische Experiment:

Die revolutionäre Energie der Massen lässt sich nicht auf Flaschen ziehen, und ein großer Volkskampf lässt sich nicht wie eine Militärparade führen.

Rosa Luxemburg wusste aber auch, dass diese heftigen, unvorhersehbaren, Eruptionen Angst einflößen, den eigenen Parteifunktionären, die sich ängstigen, dass ihnen das Geschehen entgleiten könnte, aber auch der gegnerischen Seite:

Es ist vor allem klar und durch die Geschichte der bisherigen Massenstreiks in verschiedenen Ländern bestätigt, dass, je rascher, je unvorbereiteter ein politischer Streik den herrschenden Klassen über den Kopf kommt, desto stärker die Wirkung und die Aussichten auf den Sieg.

Fehlende Vorbereitung als Voraussetzung für den Erfolg – dem einen Politiker haut das die Beine weg, dem anderen mag es als Ausrede dienen.

Die nächste Anregung lässt sich unter die Überschrift „Die große Enttäuschung“ fassen.

Anregung 3: Oft genug kommt bei großen Veränderungen das größte Verdienst nicht den bisherigen Hauptkräften zu, sondern den bis dahin nebensächlichen Kräften.

Wieder Rosa Luxemburg:

Wird es in Deutschland zu Massenstreiks kommen, so werden fast sicher nicht die Bestorganisierten – gewiss nicht die Buchdrucker –, sondern die schlechter oder gar nicht Organisierten, die Bergarbeiter, die Textilarbeiter, vielleicht gar die Landarbeiter, die größte Aktionsfähigkeit entwickeln.

Was Rosa Luxemburg hier als psychologische Behauptung in den Raum stellt, ist aus biokybernetischer Sicht das Normale, denn das gehört zum Wesen komplexer Systeme, dass das früher Unscheinbare plötzlich zum Mittelpunkt wird. Wir sollten uns ein wenig darauf einstellen, dass auch künftig grundlegende Veränderungen nicht von den uns bekannten Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen getragen werden, ganz gewiss jedenfalls nicht von ihnen allein. Nehmen Sie die lange versuchte Westausdehnung der PDS. Sie kam erst in Gang, als Lafontaine alle überraschte, und führte zu einem Ergebnis, das man nicht mehr als bloße Westausdehnung bezeichnen mag.

Rosa Luxemburg wurde allerdings noch deutlicher:

Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein – dieser wegweisende Satz des kommunistischen Manifests hat auch noch die Bedeutung im einzelnen, dass auch innerhalb der Klassenpartei des Proletariats jede große, entscheidende Bewegung nicht aus der Initiative der Handvoll Führer, sondern aus der Überzeugung und Entschlossenheit der Masse der Parteianhänger herrühren muss.

Für den wahren Revolutionär mag das nichts weiter bedeuten, Hauptsache, die Bewegung kommt in Gang. Für den wahren Funktionär allerdings ist das eine Katastrophe, stellt das doch seine Bedeutung, ja seine ganze Existenz in Frage. Er trachtet naturgemäß danach, alles Spontane niederzuringen – während Rosa Luxemburg es einsetzen wollte.

Diese Rosa muss für ihn ein rotes Tuch sein.

Nun zwei Trostpflästerchen, das erste:

Anregung 4: Man ist komplexen System nicht hilflos ausgeliefert.

Der berühmte Science-Fiction-Autor Isaac Asimov erzählt in einem seiner Foundation-Romane, in denen es um statistische Gesetze in der menschlichen Gesellschaft geht, den folgenden kleinen Witz:

Wie bringt man Gott zum Lachen? – Indem man ihm von seinen Plänen erzählt.

Dass unsere Pläne nie aufgehen, ist nicht Gottes böser Wille, sondern ist unserer Art zu planen geschuldet – zu linear und zu wenig vernetzt. Komplexe Systeme funktionieren anders als unser eingeübtes lineares Denken wahrhaben will, aber sie funktionieren nach Gesetzen, die man kennen lernen und nutzen kann. Der Schlüssel liegt darin, nicht massenhaft Daten zu sammeln, sondern die Muster hinter den scheinbar verwirrenden Gegebenheiten zu erkennen, kurz, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Sie können auf dem verteilten Blatt verschieden grau gefärbte Quadrate erkennen, mit etwas Unschärfe durch Zusammenkneifen der Augen, Entfernung und Phantasie aber auch das Porträt Abraham Lincolns. Unschärfe ist im Übrigen ein gutes Hilfsmittel beim Umgang mit komplexen Systemen.

Vielleicht hatte Rosa Luxemburg etwas über Mustererkennung geahnt, als sie über zwei vergangene Massenstreiks schrieb:

Spontan nicht in dem Sinne etwa, dass sie chaotisch, planlos, zügellos und führerlos waren. Im Gegenteil war gerade in jenen beiden Streiks die Parteiführerschaft mit der Masse völlig eins, sie marschierte an der Spitze, leitete und beherrschte vollkommen die Bewegung, gerade weil sie völlig mit dem Pulsschlag der Masse in Kontakt war, sich ihm anpasste, nicht als Mundstück, als bewusster Ausdruck für die Gefühle und Bewegungen der Masse.

Das zweite Trostpflaster ist eng mit dem ersten verbunden:

Anregung 5: Es ist unsere Aufgabe, komplexe Verhältnisse verstehen zu lernen und die Instrumente, mit ihnen umzugehen, zu lehren.

Hier erhält die ganze Partei und natürlich erst recht eine Stiftung wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht nur eine Aufgabe, sondern auch eine Berechtigung. Oder, um es mit Rosa Luxemburg zu sagen:

Die Sozialdemokratie … kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der „revolutionären Situation“ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt… Das vermag sie dadurch, dass sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht.

Damit zu einigen der Instrumente, der Herangehensweisen, die uns zur Verfügung stehen. Nehmen wir wieder einige Anleihen bei der Natur. In ihr findet ununterbrochen Selbstregulation statt, erfolgreiche Selbstregulation. Wenn es zu viele Wölfe gibt, fressen diese so viele Hasen, so dass bald nur noch wenige da sind; also verhungern viele Wölfe; wenn es dann weniger Wölfe gibt, können sich die Hasen vermehren, so dass wieder mehr Wölfe satt werden und Junge bekommen…

Was den Erfolg betrifft: Überlegen Sie nur, welch gigantische Produktion und Verwertung die Natur in Gang gesetzt hat – ohne auch nur ein einziges Gramm Müll zu produzieren. Wir als Gipfel der Schöpfung sind dagegen wahre Dilettanten.

Anregung 6: Wir müssen Regelkreise als solche erst einmal wahrnehmen.

In Regelkreisen verliert die Kausalität allerdings ihre Richtung: Jede Wirkung ist wieder Ursache. Es ist kalt im Zimmer, also springt die Heizung an, also wird es warm, also geht die Heizung aus, also wird es im Zimmer kalt, also… Oder denken Sie an den israelisch-palästinensischen Konflikt, wer mag da noch Ursache und Wirkung klar zu trennen?

In Regelkreisen muss die negative Rückkoppelung über positive Rückkopplung dominieren, soll sich das System nicht selbst zerstören. Wenn der Wolf ums so mehr Hasen fangen könnte, je mehr Hasen er gefressen hat – das wäre die positive Rückkoppelung -, dann hätte er bald keine Hasen mehr zum Fressen. Vielleicht siegt sich gerade der Turbokapitalismus auf diese Weise tot. Der Wolf dagegen wird bei zu vielen Hasen zu fett und zu träge zur Jagd – und erhält sich so seine Nahrungsquelle.

Anregung 7: Ein System muss vom quantitativen Wachstum unabhängig sein.

Als die PDS den Einzug in den Bundestag verpasste, also erstmals nicht wuchs, hatte sie nicht „nur“ weniger Mandatsträger, sondern sie geriet in eine existentielle Krise. Wenn ein System wachsen und gleichzeitig überleben will, muss es Metamorphosen durchmachen. Eine Raupe wäre ab einer bestimmten Größe nicht mehr lebensfähig. Und auch eine noch so große Raupe könnte sich nicht fortpflanzen. Deshalb schaltet sie rechtzeitig auf Nullwachstum um, wird innovativ, verpuppt sich und wird zum Schmetterling. Auch bei der PDS führte bloßes Wachstumsstreben gen Westen nicht zum Ziel. Erst die Metamorphose zur Linkspartei und das Zusammengehen mit der WASG haben vielleicht Erfolg.

Anregung 8: Das System muss funktions- und nicht produktorientiert arbeiten.

Eine Schreibmaschinenfirma stünde längst vor dem Aus, wenn sie nicht auf Computer umgeschwenkt wäre. Im vorletzten Bundestagswahlkampf nahm der damalige Kanzler der PDS mit der Elbeflut das Thema Osten und mit dem Irakkrieg das Thema Frieden weg. Die PDS stand plötzlich ohne „Produkte“ da. Sie funktionierte so schlecht, dass ihr die Umstellung auf neue „Produkte“ nur schwer gelang. Die Pflege eines regen Parteilebens wird so zur Überlebensfrage.

Anregung 9: Symbiose, d.h., Verschiedenartigkeit muss durch Koppelung und Austausch genutzt werden.

Symbiose ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der Natur. Ich plädiere deshalb dafür, dass sich linke Parteien, soziale Bewegungen und Gewerkschaften nicht gegeneinander abgrenzen, sondern ihre Verschiedenartigkeit miteinander nutzen. Symbiose findet jedoch nur statt, wenn es die Vielfalt auf kleinem Raum gibt, wenn man in Kontakt kommt.

Anregung 10: Wir brauchen ein biologisches Design von Produkten, Verfahren und Organisationsformen durch Feedback-Planung.

Das liegt mir sehr am Herzen: wieder Kinderbetreuung auf Parteitagen, Gewerkschaftsversammlungen oder Bildungsveranstaltungen. Endlich Sitzungstermine und Sitzungsdauer nach menschlichem Maß. Vielleicht hätte dies und anderes mehr für die Teilnahme der Frauen am politischen Prozess bewirkt, als das die Quotierung je könnte. Feedback-Planung meint übrigens, mal die fragen, die davon Betroffen sind, auch und gerade die, die nicht in Parteien gehen oder sich nicht zu Parteitagen delegieren lassen oder heute nicht hier sind.

Anregung 11: Die lasse ich ebenso beiseite wie die restlichen neunhundertneunzig.

Ich konnte Ihnen nur einen winzigen Einblick in eine neue, moderne, aufregende, oft überraschende und vor allem überlebensnotwendige Denkweise geben. Ich habe versucht, hoffentlich nicht zu bemüht, Ihnen darzubringen, dass Rosa Luxemburg möglicherweise intuitiv einiges über die Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Komplexität geahnt hatte. Wir müssen anfangen zu lernen, komplexe Systeme zu beherrschen. Man kann ganz sicher naturwissenschaftliches Denken nicht ungebrochen ins Gesellschaftliche übertragen, aber man darf sich anregen lassen. Die großen Versicherungskonzerne, insbesondere die Rückversicherer, nutzen längst diese Methoden für ihr Geschäft. Wir sollten ihnen diese Instrumente nicht zur alleinigen Nutzung überlassen.

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