„Eine irre Stimmung muss das damals gewesen sein.“

Sabine Todt bei Ihrem Vortrag zum Himmel- und Höllenwagen
Sabine Todt bei Ihrem Vortrag zum Himmel- und Höllenwagen

Geschichte und Geschichten der Reformation vor 500 Jahren wurden in Wittbrietzen lebendig

Die Hamburger Historikerin Dr. Sabine Todt fesselt mit ihrer lebhaften und überaus anschaulichen Vortragsweise die über 100 Zuhörer, die am Sonnabend Nachmittag der Einladung der Kirchengemeinde Wittbrietzen ins dortige Dorfgemeinschaftshaus gefolgt sind. Es geht um einen ganz besonderen Schatz der Kirchengemeinde, um das erste Flugblatt der Reformation „Der Himmel- und Höllenwagen“ von 1519.

Detlef Fechner über die den Weg des Flugblattes nach Wittbrietzen

Ortschronist Detlef Fechner
Ortschronist Detlef Fechner

Durch eine Gunst der Geschichte, wie es der Ortschronist und Initiator der Veranstaltung Detlef Fechner formuliert, gelangte die Kirchengemeinde in den Besitz eines von vermutlich nur noch drei Exemplaren. Es war wohl ein Erbe des begeisterten Lutheraners Caspar von Köckritz. Verfasst hat das Flugblatt kein geringerer als der Mitinitiator der Reformation und spätere Widerpart Martin Luthers, Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt. Der Illustrator ist noch berühmter: Lucas Cranach d.Ä. Kein Wunder also, dass das wertvolle Exemplar nicht in Wittbrietzen, sondern sicher in Berlin liegt.

Lebendiger Vortrag von Sabine Todt

Todt versteht es in hervorragender Weise, das vergangene Geschehen in heutige Bilder und Sprache zu bringen: „Eine irre Stimmung muss das damals gewesen sein.“ Gemeint sind die vielfältigen reformatorischen Veränderungen durch Karlstadt, der in Wittenberg, während Luther sich noch auf der Wartburg versteckt hielt, die erste deutschsprachige Messe hielt. Das berühmte Flugblatt charakterisiert sie als „erstes Comic“. In einer Zeit, in der gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung lesen konnte, davon die wenigsten Latein, war diese Mischung aus Eindruck machenden Bildern und einfachen deutschen Sätzen, die man einander vorlesen konnte, das ebenso naheliegende wie wirkungsmächtige Mittel. „Es kostete soviel wie ein besseres Mittagessen“, so erklärt Todt die große Verbreitung dieses Mediums. Insgesamt hält Todt das 30 mal 40 Zentimeter große Flugblatt daher für entscheidender für den Fortgang der Reformation als die berühmteren 95 Thesen Luthers, die in Latein abgefasst für eine akademische Debatte gedacht waren. „Wir feiern in Wittbrietzen 2019 noch einmal ganz groß Reformation“, greift der gastgebende Pfarrer Clemens Bloedhorn einen Vorschlag Todts auf.

Über das erste Flugblatt der Reformation

Todt verweist auf den vielfältigen antithetischen Aufbau des reformatorischen „Comics“, das die Stimmung zugunsten der Lutheraner aufheizen sollte. Oben fährt der Himmelwagen zu Christus, unten der Höllenwagen direkt in den Höllenschlund. Oben sitzen, na klar, die Protestanten, unten, aus protestantischer Sicht ebenso klar, die katholischen Kleriker. Oben greift ein kleiner Teufel in die Speichen und versucht den Wagen zu bremsen, unten ölt ein Teufelchen die Räder.

Todt verweist auf viele Details. Unten hat eine Pferdedecke das gleiche Muster wie oben der Mantel eines Bischoffs. Ein Bischoff oben im Himmelswagen? Es handelt sich um Augustinus von Hippo, auf den sich die Reformer um Luther teilweise beziehen und der gerade noch den Absprung vom Höllenwagen geschafft hat. Christus, auf den der Himmelwagen zufährt, steht hinter dem Kreuz. „Man muss erst das Kreuz auf sich nehmen, bevor man zu Christus kommt“, so Todt. Zu allem Überdruss fährt der Wagen dann auch noch knapp am Kreuz vorbei. Noch einmal Todt: „Der Mensch wird irgendwann schwach. Aber er muss es versuchen“. Es braucht die Überzeugung „Wir schaffen das“, erklärt die Historikerin und ergänzt „Ich rede schon wie Merkel.“

Auch Nachdenkliches hat Todt zu bieten. Im Himmelwagen werden die Pferde mit Peitschen angetrieben und traben gemächlich. Im Höllenwagen fehlen die Peitschen und trotzdem galoppieren die Pferde dem Höllenschlund entgegen. „Warum? Denken Sie mal darüber nach“, so Todt.

Vom Wert marxistischer Geschichtswissenschaft

Sie bedauert, dass heute oft nur noch Luther gesehen wird, und nicht die ganze Vielfalt an Ideen und Personen, die der reformatorische Aufbruch hervorgebracht hat. Sie verweist auf die marxistische Geschichtswissenschaft in der DDR, die den Blick auch auf die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen der Reformation gerichtet hatte, die auch Müntzer und andere Reformatoren im Fokus hatte.

Bedeutend bis heute

A-Cappella-Chor Wittbrietzen
A-Cappella-Chor

Das Flugblatt ist an diesem Sonnabend Nachmittag jedoch nicht der einzige Wittbrietzener Schatz, den man bewundern kann. Unter Leitung von Kantor Andreas Behrendt trägt ein Ensemble a cappella Kirchenmusiken aus der Zeit vor und nach der Reformation vor, darunter eine Komposition von Luther selbst. Auch musikalisch wird der große Bruch erlebbar, den die Reformation bedeutete. Wie sehr uns das damalige Geschehen heute noch bewegt, ist auch an der großen Zahl der Zuhörer ablesbar. Die Frage, ob die Gnade Gottes am Ende oder am Anfang steht, ob der Mensch sie erst durch eigene Werke verdienen muss oder ob er sie von Geburt an besitzt, ist, entsprechend tran­skri­bie­rt, auch für Nichtgläubige brisant. Zum Beispiel aktuell in der Flüchtlingsfrage: Erhalten wir unsere Menschenrechte mit unserer Geburt, oder gibt es eine Instanz, der gegenüber wir uns erst beweisen müssen? Kann Menschen ihre Würde zu- oder aberkannt werden?