Krimi real – Rechtsmediziner Michael Tsokos war Publikumsmagnet in Fichtenwalde

Michael Tsokos
Michael Tsokos

Auf dem Rücksitz des ausgebrannten Autos sitzt eine Leiche. Doch wo ist der Fahrer? Über diesen und andere Fälle berichtet Michael Tsokos am Dienstag in der bis auf den letzten Platz gefüllten Turnhalle in Fichtenwalde. Die 300 Teilnehmenden kommen aus Fichtenwalde und den umliegenden Orten, aber auch aus Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin. 200 weiteren Interessenten musste abgesagt werden. Nur von den eingeladenen Politikern lässt sich keiner blicken. „Mit Toten kann man keine Wahl gewinnen“, bedauert nicht nur Reinhard Scheiper von der Sicherheitspartnerschaft Fichtenwalde, die das Event gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert hatte.

Tsokos leitet seit 2007 die Rechtsmedizin an der Berliner Charité und war Gutachter im Mordfall des Potsdamer Jungen Elias. Moderiert wird er von keinem geringeren als dem brandenburgischen Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg.

Michael Tsokos und Erardo Rautenberg
Michael Tsokos und Erardo Rautenberg

Tsokos liest aus seinem neuesten Buch „Sind Tote immer leichenblass?“. Er räumt mit verschiedenen populären Irrtümern über die Rechtsmedizin auf. Sind Rechtsmediziner und Pathologen dasselbe? Nein, Pathologen untersuchen Krankheiten im Körper, Rechtsmediziner die äußeren Ursachen eines nichtnatürlichen Todes. Pathologen führen klinische Obduktionen nur mit Einverständnis der Angehörigen durch, Rechtsmediziner im Auftrag eines Gerichtes oder der Staatsanwaltschaft, wenn es um Mord, Suizid, Unfalltod oder ungeklärte Todesursachen geht. Untersuchen Rechtsmediziner nur Tote? Nein, z.B. auch Opfer häuslicher Gewalt. Kann man den Gesichtszügen Toter entnehmen, ob sie einen friedlichen oder einen qualvollen Tod hatten? Nein. Mit dem Tod erschlaffen alle Muskeln und folgen den Gesetzen der Schwerkraft, auch die Gesichtsmuskeln. Deshalb haben liegend Verstorbene offene Augen, sitzend Gestorbene einen offenen Mund. Die nach 30 Minuten beginnende Totenstarre fixiert dann die erschlafften Muskeln. Hören Rechtsmediziner beim Sezieren klassische Musik, so wie Prof. Börne im Münsteraner Tatort? Tsokos kennt weltweit keinen einzigen. Wachsen nach dem Tod Haare und Nägel weiter? Nein, mit dem Tod hören alle biologischen Prozesse auf. Da aber anschließend das Gewebe Wasser verliert und schrumpft, kann durchaus der gegenteilige Eindruck entstehen.

Untersuchung eines Schädels
Untersuchung eines Schädels

Wie das aussieht, das illustriert der Rechtsmediziner mit einem Foto. Überhaupt mutet der Spiegelbestsellerautor seinen Zuschauern einiges zu: „Ich bin froh, dass keine Kinder da sind.“ Die Zauchauer bekommen eine aufgeschwemmte Wasserleiche ebenso zu sehen wie den verkohlten Rumpf eines Brandopfers, den Körper eines Jugendlichen nach einem Starkstromschlag, Opfer sexueller Gewalt und misshandelte Kinder oder die Leichenberge nach dem Tsunami in Thailand. Zu sehen ist auch, dass Leichen keinesfalls leichenblass sind. „Im Gegenteil.“ Die Haut verfärbt sich bläulich-violett. Auch Rautenberg bekennt, dass er froh ist, nur die Fotos zu sehen. Für Rechtsmediziner ist das jedoch Alltag. Zweitausend Fälle pro Jahr, darunter 100 bis 120 Tötungsdelekte landen auf den Seziertischen von Tskos Institut: „Wir können nicht weiterblättern, wegzappen oder wegschauen.“

Die Turnhalle ist bis auf den letzten Platz besetzt
Die Turnhalle ist bis auf den letzten Platz besetzt

Tsokos hatte es dabei auch schon mit Serientätern zu tun, insgesamt acht. Sein erster Fall war der von Irene B. in Berlin. „Bei Serientätern sind – anders als im Film – geplantes Handeln und Nervenstärke eher selten anzutreffen“, so Tsokos.

Nach der Lesung können Fragen gestellt werden. Eine Zuhörerin will wissen, wie Tsokos den Leichengeruch aushält. „Ich falle nicht um, aber ich hasse ihn auch. Ich bin ein Freund von Blumenduft.“ Einen Wollpullover sollte man jedoch bei der Arbeit nicht anhaben.

Die Feuerwehr konnte den Zaun nicht vom Opfer trennen
Die Feuerwehr konnte den Zaun nicht vom Opfer trennen

Wie wichtig der Beruf des Rechtsmediziners ist, wird daran deutlich, dass in Deutschland jeder zweite Mord unentdeckt bleibt. Bei rund 11.000 Toten wird fälschlicherweise eine natürlich Todesursache diagnostiziert. 1.200 davon sind Opfer von Tötungsdelikten, die anderen nicht erkannte Suizide, Unfälle und ärztliche Kunstfehler! Das ergab eine noch immer aktuelle Studie der Universität Münster aus dem Jahr 1997.

Rautenberg und Tsokos fordern deshalb, dass der Hausarzt nur den Tod feststellen und nicht auch die Leichenschau vornehmen sollte. Für letzteres sollten entsprechend ausgebildete Ärzte zertifiziert werden.

Bei dem eingangs erwähnten Brandauto konnten die Rechtsmediziner übrigens einen Suizid mit entzündeten Benzingasen nachweisen, bei dem der Fahrer durch die Wucht der Explosion auf den Rücksitz geschleudert wurde.