„Mehr Freiheit! Mehr Mittel!“
„Dorfpapst“ Gerhard Henkel fordert: „Lasst das Dorf leben!“
Rädigke. Gerhard Henkel, von einer Zeitung als Dorfpapst tituliert, trifft die Meinung im Saal, wenn er Defizite vor Ort einerseits und eine zunehmende Fremdsteuerung statt dörflicher Eigenverantwortung andererseits beklagt. Der große Raum in der Fläming-Bibliothek im Gasthof Moritz ist trotz des politischen Themas und des Eintrittspreises bis auf den letzten Platz und darüber hinaus gefüllt. Das Thema „Rettet das Dorf!“ brennt offenbar vielen unter den Nägeln.
Henkel schildert an zahlreichen Beispielen, vorrangig aus seiner westfälischen Heimat, die aktuelle und oft akut schlechte Situation der Dörfer. In vielen Gesetzen kommt das Wort „Dorf“ nicht einmal mehr vor. Wenn oft statt von der Entwicklung der Dörfer oder des ländlichen Lebens technokratisch von Raumordnung gesprochen wird, gerät das eigentliche Dorf aus dem Blick. Wenn im Rahmen von Kommunalreformen aus Dörfern Ortsteile werden, dann missachtet das nicht nur das Empfinden der Bewohner. Es bedeutet auch, dass weniger ehrenamtlich Engagierte eingebunden werden. Wo früher in Rädigke zehn Gemeindevertreter berieten, reicht heute dieselbe Zahl für die Gemeinde Rabenstein mit sechs Ortsteilen einschließlich Rädigke. Bewusst oder unbewusst sendet die Politik damit das Signal aus, dass man das ehrenamtliche Engagement in den Dörfern nicht mehr braucht.
Aber auch in einigen Dörfern gibt es Defizite. Henke zählt einige auf:
„Zu viel Mißgunst, zu viel Beobachten, zu viel Kritisieren, und das Heraushalten von Auswertigen.“
Bei gleicher Ausgangslage können sich Dörfer dadurch sehr unterschiedlich entwickeln.
Insgesamt sieht Henkel jedoch viel Potential für die Dörfern. Er nennt die hohe Wertschätzung, die das Dorf im Dorf genießt, und den vergleichsweise hohen Wohlstand auf dem Land. Aber auch die im Dorf noch immer höhere Geburtenrate im Dorf gegenüber der Stadt und die Orientierung an Tradition, Gemeinschaft und Natur sowie auf das Handeln. Hinzu kommen die Versorgung des ganzen Landes mit Lebensmitteln, erneuerbarer Energie und Rohstoffen und die abwechslungsreiche Natur- und Kulturlandschaft, die von den Dörfern geprägt wird. Im Dorf ist auch das vorsorgende Denken ausgeprägter, was sich laut Henkel beispielsweise an der gegenüber der Stadt zehnfachen Blutspendequote zeigt.
Was kann man im Dorf selbst tun, um die Potentiale besser auszunutzen? Die Botschaft von Henkel liegt nahe:
„Bürger und Kommune müssen sich engagieren und dem Gemeinwohl zuwenden.“
Das ist nicht nur ein Appell. Seit zehn, fünfzehn Jahren beobachtet Henkel das Entstehen einer neuen Art von Vereinen. Neben die klassischen Sport-, Kultur- und Karnevalsvereine treten Bürgervereine, die das gesamte Dorf in den Blick nehmen. Sie versuchen, Verlusterfahrungen durch die verschiedenen Kommunalreformen zu kompensieren.
Aber nicht nur im Dorf, sondern auch mit dem Dorf wird eine neue Kultur des Miteinanders und des Respektes auf Augenhöhe gebraucht. Für Henkel wäre die Eigentumsförderung eine der wichtigsten Förderungen des Dorfes, schließlich ist dort der Wunsch nach Wohneigentum so groß wie kaum sonst. Bereits heute beträgt die Eigentumsquote 85 Prozent. Vor allem aber benötigen die Dörfer zum Leben „mehr Freiheit und mehr Mittel“. Wenn es um mehr Freiheit geht, hält Henkel die brandenburgische Ämterverfassung gegenüber der Eingemeindung für das bessere Modell. Wenn Dörfer eigenständig bleiben, wird das Engagement der Bürger gestärkt und manche bürokratische Hürde beiseite geräumt. War früher eine Friedhofsmauer kaputt, berieten drei, vier Leute und regelten das Problem. Heute machen Verwaltungsbeamte eine Ortsbegehung und füllen Formulare aus. Auch der Nachwuchs findet über das Einbringen im Dorf leichter in die Kommunalpolitik. Darüber hinaus haben laut Henkel Studien gezeigt, dass Kommunalreformen keine Einsparungen bringen.
Leider war sein Vortrag recht weitschweifig und mit fast zwei Stunden zu lang, um wirklich Zeit für eine Diskussion einzuräumen. Dass sich das hätte lohnen können, zeigte sich zum Beispiel an Axel Clemens aus Blöhnsdorf. Er forderte eine der tragenden Säulen des deutschen Verfassungsrechtes ein, die Subsidiarität. Die jeweils größere gesellschaftliche oder staatliche Einheit soll nur dann, wenn die kleinere Einheit dazu nicht in der Lage ist, aktiv werden und regulierend, kontrollierend oder helfend eingreifen. Er machte auch auf ein Problem aufmerksam:
„Wir können nicht erwarten, dass Politik und Verwaltung die Probleme lösen, die sie geschaffen haben.“
Ralf Rafelt aus Groß Marzehns berichtete vom kürzlich gegründeten Dörfernetzwerk Hoher Fläming, das den kleinen Dörfern eine Stimme geben will. Nicht nur er nutzte den Abend, um Kontakte zu knüpfen.
An der einen oder anderen Stelle hätte man sich auch mehr Analyse der tieferliegenden ökonomischen und sozialen Gründe für die Vernachlässigung des Dorfes und der Probleme im Dorf wünschen können. Doch insgesamt waren sich der Referent, der Gastgeber Bernd Moritz und die Teilnehmer in ihrer Forderung einig:
„Lasst das Dorf leben!“
Moritz hatte dafür zum Schluss noch einen ganz praktischen Vorschlag:
„Bei den Gemeindevertretersitzungen sollte der Saal auch so voll sein!“
So punktet das Dorf:
Das sich das Engagement für das Dorf lohnt, macht Henkel am Ende des Abends noch einmal deutlich:
- Die hohe Wertschätzung, die das Dorf im Dorf genießt.
- Der vergleichsweise hohe Wohlstand im Dorf.
- Die Versorgung des ganzen Landes mit Lebensmitteln, erneuerbarer Energie und Rohstoffen.
- Die höhere Geburtenrate im Dorf gegenüber der Stadt.
- Die Orientierung an Tradition, Gemeinschaft und Natur sowie auf das Handeln.
- Das ausgeprägte vorsorgende Denken, das sich beispielsweise an der zehnfachen Blutspendequote im Dorf gegenüber der Stadt zeigt.
- Ausgeprägte Eigenverantwortung und Kompetenz, diese wahrzunehmen.
- Die abwechslungsreiche Natur- und Kulturlandschaft, die von den Dörfern geprägt wird.
Pro Ämterverfassung
Henkel hält die in Brandenburg oft noch praktizierte Ämterverfassung gegenüber der Eingemeindung für das bessere Modell. Wenn Dörfer Ortsteile werden, so ist das schon sprachlich eine Diskriminierung. Wenn die Orte dagegen bestehen bleiben, wird das Engagement der Bürger gestärkt. Der Nachwuchs findet über das Einbringen im Dorf leichter in die Kommunalpolitik. Mal abgesehen davon, dass Kommunalreformen keine Einsparungen bringen. War früher eine Friedhofsmauer kaputt, berieten früher drei, vier Leute und regelten das Problem. Heute machen Verwaltungsbeamte eine Ortsbegehung und füllen Formulare aus.
Radikaler Vorschlag
Besser als ausgeklügelte Förderprogramme mit ausgefeilter Antrags- und Bewilligungskultur kann sich Henkel eine ganz simple Sache vorstellen: Jedes der ca. 20.000 Dörfer in Deutschland erhält 10.000 Euro. Man muss deutlich machen, „Dass die in Berlin und Potsdam denen in den Dörfern etwas zutrauen.“
Gerhard Henkel
Gerhard Henkel ist Geograph und Universitätsprofessor der Universität Duisburg-Essen. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Humangeographie mit besonderer Spezialisierung auf die historische und aktuelle Land- und Dorfentwicklung. In den Medien wurde Gerhard Henkel als „Anwalt des ländlichen Raumes“ und „Deutscher Dorfpapst“ bezeichnet.